Ein Hotel ist es eigentlich nicht, schon eher eine Geschichte. Eine von denen, die anfangs so ein bisschen unscheinbar tun kleiner Text zum großen Leben , je weiter man dann reingeht, desto mehr Räume öffnen sich, desto vielschichtiger, widersprüchlicher, ja absurder werden sie, um dann doch mit Altvertrautem aufzuwarten, damit wir den Boden unter den Füßen nicht verlieren beziehungsweise jenes Stück Heimat, das wir immer in der Tasche tragen. Damit wir uns nicht so allein fühlen, wenn wir in der Fremde sind. Warum sonst meinen wir den Kellner bereits nach zwei Tagen bestens zu kennen?
Ich weiß, wovon ich spreche, Hotels sind mir in Fleisch und Blut übergegangen, ich wuchs in ihnen auf. Gute Hotels, große Hotels, beste Küche. Hamburg, Barbados, München, Rothenburg ob der Tauber, später leitete der Vater die Küchen der Sheratons in Singapur. Als Kind war man in jenem Zwischenreich angesiedelt, wo sonst keiner hinkommt: an der Nahtstelle von Personal zu Gast. Genau dort, wo die Angestellten plötzlich schneller werden, wo die Gesichtszüge maskenhaft werden, wo Haltung angenommen wird, wo Zuvorkommen und Höflichkeit als Berufskleidung angelegt werden, kurzum: wo die Form entsteht. Ich sah die Maîtres sich in Sekundenbruchteilen verwandeln wie die Schauspieler im japanischen No-Theater, eben noch Mensch, jetzt Service: Sie wünschen? Haben Sie gewählt?
Tja, was wünschen wir eigentlich immer? Und was wählen wir?
Im kroatischen Hotel Televrin gibt es kein Zwischenreich. Dass dies so ist, haben wir noch immer dem Kommunismus zu verdanken. Da gab es klare Fronten. Auf der einen Seite die Köche, den Service, die Zimmermädchen, die arbeitende Bevölkerung also, und auf der anderen Seite gab es den Gast. Ich muss nicht sagen, wer im Recht war.
Bekanntlich atmet die Geschichte ziemlich langsam aus. Und weil das so ist, haben das Televrin und das kleine Örtchen Nerezine noch immer jenen schwer zu beschreibenden postsozialistischen Charme, der den betonversiegelten idyllischen Dorfplatz mit dem strahlend blauen ja, man möchte sagen Antlitz des Meeres kombiniert und den von der mürrischen Bedienung hingeknallten Morgenkaffee mit der herzlichen Umarmung des Wirtes. Und damit sind wir auch schon fast am Ende der Sünden angelangt, die hier gleich zu Beginn aufgetischt werden, weil Sünden zwar verwerflich, aber in der Regel spannend sind.
Die größte ihrer Gattung was unser Thema angeht gibt es in Nerezine und auf der gesamten Insel Losjin nicht: die Bausünde. Das Dorf ist klein, das Hotel ist klein, 15 Zimmer mit Restaurant, der Hafen, an dem es liegt, gleicht einer Bilderbuchanlage. Fischerboote, Segelschiffe und der Südwind gehen hier vor Anker. Früher allerdings schwappte auch die Geschichte manchmal mächtig rein: Österreicher, Italiener, Deutsche, Jugoslawen, Serben sie ließen Wörter und Wunden zurück. Auf dem Friedhof liest man fünf verschiedene Namen ein und derselben Familie auf einem Grabstein.
Das Hotel war einst ein Rathaus, bis 1955 war es Hafenamt, danach eine Ruine. Dann wurde es zu einem Liebesobjekt. Eine merkwürdig illustre Gruppe von Menschen, auch Investoren genannt, kam daher, verliebte sich in die Direktheit der Einheimischen, die letztlich ungebrochene Schönheit des Dorfes und der Landschaft und in die Fragilität des alten Hauses und baute es wieder auf. Die Bedingungen: keine Fremdgelder, kein Saisonbetrieb. Um dies zu ermöglichen, finden Seminare statt. Bölls Neffe erzählt von seinem Onkel, Heinrich Pachl lehrt Kabarett, und ich bringe den Menschen das Schreiben von Geschichten bei.
Wie leicht das geht, wenn man inmitten einer Geschichte ist Der Fremdenführer hat Philosophie studiert in Deutschland, seine Mutter hat bei Pina Bausch getanzt. Er sagt die Namen der Fische und zeigt Erdbeeren, die an Bäumen wachsen – wie es war, als man hier noch Seide spann, weiß er zu erzählen. Klar, einfach, das ist das Beste.
Das Land ist aus Stein, die Bäume sind grün, das Meer ist blau, die Sonne scheint, und was die Nacht angeht, die kann man hier auch noch erleben, diesen Dom aus Schwarz, erschütternd, und wie es glänzt in ihm je länger man hinschaut, desto mehr Sterne blitzen auf. Kein einziges Licht ist auszumachen auf der Insel gegenüber dem Hotel. Wer allein sein will, geht an den Strand, wer Gesellschaft sucht, geht in die Dorfkneipe, Mornar, der »Seemann«, da brennt der Kamin, und manchmal singen sie sogar Lieder. Wer an der Schöpfung zweifelt, macht eine Nachtwanderung auf den Berg mit Taschenlampe und mindestens einer Flasche Wasser. Der Televrin, der dem Hotel den Namen gab, ist mit seinen knapp sechshundert Metern der höchste Punkt der Insel. Wie der Rücken eines riesigen Wals gleitet der Gebirgszug ins Meer. Von hier aus kann man über die Inselwelt der dalmatinischen Küste sehen. Als Gott das Land vom Wasser schied, hat er hier gekleckert. Wie Perlen liegen die Tropfen jetzt im Meer. Perlen sind keine Diamanten, weder schleift noch poliert man sie. Sie sind, was sie sind. So sind gute Geschichten, so ist dieses Hotel.
Von Liane Dirks
18. Oktober 2007 | Quelle: DIE ZEIT Nr.43 vom 18.10.2007, S.R11
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