Auf den kroatischen Inseln Cres und Mali Losinj dauert der Sommer länger

Mit Bora ist nicht zu spaßen. Wie ein wildes Tier faucht sie die ganze Nacht durchs Gebälk, als wolle sie nicht eher Ruhe geben, bis der letzte Dachziegel abgedeckt ist. Jetzt, am Morgen, weht der berüchtigte Fallwind noch immer, aber die Szenerie hat all ihre Bedrohlichkeit verloren. Denn einmal mehr strahlt die Sonne von einem wolkenlosen Himmel. Auf der geschützten Frühstücksterrasse ist es schon um neun Uhr morgens mollig warm. Versöhnt blicken wir in die Runde – auf Bucht und Hafen von Cres, den Hauptort der gleichnamigen Adria-Insel. 66 Kilometer lang, aber nur maximal zwei Kilometer breit, liegt sie in der Kvarner Bucht zwischen Istrien und der dalmatischen Küste – ein Streifen Land im Wasser, der direkt nach Süden zeigt, gen Afrika.

Von einem Inselidyll mit Palmen und Sandstrand kann allerdings keine Rede sein: Das kroatische Eiland ist ein raues Stück Erde, kaum besiedelt und nur spärlich bewachsen – im Sommer heiß und schattenarm, im Spätherbst aber goldrichtig: Genau die Wärme, die man braucht, wenn einem ein deutscher Winter bevorsteht.
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Wir suchten ein wohltemperiertes Wandergebiet, für das man nicht in den Flieger steigen muss. Entschleunigt anreisen war die Devise: mit dem Nachtzug nach München, dort gemütlich frühstücken und dann weiter mit dem Eurocity nach Ljubljana, in eine Stadt, die wunderbar lebendig ist, ohne touristisch zu sein. Am nächsten Morgen schließlich durch das idyllische Hinterland Sloweniens nach Rijeka, wo am Nachmittag das Tragflügelboot ausläuft.

Eine gute Entscheidung. Überfüllte Restaurants und überlaufene Wanderwege muss man auf Cres zu dieser Jahreszeit nicht befürchten. Die rund 2500 Insulaner leben von den Gästescharen, die im Sommer kommen – zum Baden, Tauchen und Segeln. Entsprechend nachlässig sind die Angebote für die Nachsaison. Wanderer bekommen einen deutschsprachigen Faltplan in die Hand gedrückt, auf dem Maßstab und Höhenprofil fehlen und die Zeitangaben frei erfunden scheinen. Miteinander verbunden sind die Routen ebenfalls nicht. Wenn es so etwas wie ein Wanderwegenetz gibt, dann rund um das mittelalterliche Cres selbst. Wer sich den Rest der Insel zu Fuß erschließen will, wird zum Abenteurer, ob er will oder nicht.

Auch wenn uns Bora die Nachtruhe raubte – vom Wandern kann sie uns nicht abhalten. Man muss sich an solchen Tagen einfach nur gut überlegen, welche Route man wählt. Im Schutz des Bergzugs ist es völlig windstill, während man auf dem Kamm weggeblasen würde. Auf die Geier müssen wir deshalb heute verzichten. Die wären im Eko-Centar Caput Insulae bei Beli zu beobachten gewesen, dem zweiten zusammenhängenden Wandergebiet der Insel. Das liegt jedoch am Ostufer. Dort fegt der vom Festland kommende Wind jetzt ungebremst hinein.

Also hinüber ins Fischerdorf Valun. Wanderung Nummer 5. Drei Stunden? Oder viereinhalb? Aus der Karte werden wir nicht schlau. Übermarkiert ist die Route auch nicht gerade. Umso bezaubernder ist der sich an den Hang schmiegende Weg: Tief unter uns die Bucht in Ultramarin, die Cres mit Valun verbindet, im Westen streckt sich Istrien aus dem Wasser und im Norden dämmert der voralpine Karst im Dunst – Bilderbuchpanorama bei Bilderbuchwetter. Immer wieder fällt der Blick auf türkisgrün schimmernde Badebuchten, in die sich in dieser Jahreszeit allenfalls ein Spaziergänger verirrt. Es duftet nach Thymian und Wacholder, an kleinblättrigen Bäumchen hängen erdbeerähnliche Früchte, die wir noch nie gesehen haben.

Und dann haben wir unglaubliches Glück. Zwei riesige Gänsegeier schweben so dicht über uns, dass uns fast ein wenig bang wird. Vom Norden der Insel fliegen sie jeden Tag ihr Revier ab – mit einer beneidenswerten Gemächlichkeit, und doch viel zu schnell, als dass man Zeit fände, die Kamera zu zücken.

Ärgerlich nur, dass man auf der Fahrstraße nach Valun hinunter muss. Erst im letzten Drittel zweigt ein alter Hohlweg ab, unmarkiert. Dornenranken greifen nach unseren Schnürsenkeln, Astwerk muss zur Seite geschoben werden. Not macht jedoch gesprächig. Bei der Einkehr im Hafencafé fragen wir die Wirtin nach einem Fußweg nach Lubenice. Wenig später pilgern wir über einen perfekt erhaltenen Saumpfad, der in keiner Karte eingezeichnet ist. Na bitte!

Lubenice ist der touristische Glanzpunkt von Cres: Wie versteinert thront das alte Dörfchen auf einem Felsenriff hoch über dem Meer. Zehn Menschen leben hier noch. „Warum harren die hier aus, so fern der Welt?“, fragen wir den bärtigen Mann, der Kunstfotos und Souvenirs verkauft und seinen Laden soeben für den Winter verbarrikadiert. „Weil sie keinen Grund haben wegzugehen“, antwortet er lakonisch.

Wir müssen auf den Bus warten, weil uns der Taxifahrer von Cres nicht abholen wollte. Er müsse heute in seinen Olivenplantagen arbeiten, hatte er am Telefon gesagt, und beim Kollegen brauchten wir es gar nicht erst versuchen. Auch der sei in diesen Tagen auf seinen Feldern zugange.

Weniger Widerstände erwarten den Wanderer auf der Nachbarinsel Mali Losinj, die durch eine Drehbrücke mit der Südspitze von Cres verbunden ist. Hier gibt es nicht nur genügend Taxis und eine brauchbare Karte, sondern auch einen knackigen Berg, die 588 Meter hohe Televrina, die bei den Kroaten Osorscica heißt. Das älteste Foto vom Gipfel datiert von 1887. Es zeigt Rudolf von Habsburg mit einem Tross von Bediensteten – der österreichische Thronfolger war hier auf Geierjagd.

Der zahmste Anstieg beginnt am verwaisten Campingplatz der einstigen Inselhauptstadt Osor. Sofort tauchen wir in eine Buschlandschaft mit einer beispiellosen Artenvielfalt ein. Der Maultierweg ist bestens markiert, gut gepflastert und von hüfthohen Trockenmauern umgeben. Länger als geplant hocken wir dann an der einzigen bewirtschafteten Berghütte des Archipels. Nicht nur wegen der einmaligen Sicht aufs Meer; der Wirt muss den Kessel mit Bohnensuppe erst noch übers Feuer hängen. Weil Sonntag ist, hat sich auch eine Gruppe kroatischer Berggänger eingefunden. Sie sind schon oben gewesen und fühlen sich wie Mount Everest-Bezwinger.

Der Schlussanstieg verläuft auf einem sanft ansteigenden Bergrücken. Mal sieht man das Meer auf der einen, mal auf der anderen Seite. Es gibt sogar eine Passage, die mit einem Seil gesichert ist. Der Blick fällt auf den Westabhang des Massivs, auf dem die Natur sich selbst überlassen ist. Hinter der wild gezackten Uferlinie glitzert die Adria. Mittendrin ein schwarzer Streifen: Unije, die größte der Satelliteninseln von Mali Losinj. Wir beobachten das Schiff, das von dort her zu kommen scheint. Wie in Zeitlupe navigiert es durch einen Ozean aus Goldbronze. Europa scheint Lichtjahre entfernt. Die Zeit steht still.

 

 

Von Gerhard Fitzthum
28. Oktober 2012 | Quelle: DER TAGESSPIEGEL vom 18.10.2007

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